Wie in der deutschen Sprache ist das Wort Heim auch im Koreanischen mehrdeutig.
’Gajoeng’ bezeichnet einen konkreten Ort, in dem Familienmitglieder leben, wie das Elternhaus, das Haus des Bruders, des Schwager oder der Tante. ’Jip’ bedeutet das materielle Haus, aber im übertragenen Sinn Familie. Wenn man sich also nach ’Jip’ sehnt, ist es nicht das eigentliche Haus, sondern die Familie und Atmosphäre, an die man sich erinnert oder die man vermisst. ’Gohyang’, schließlich, ist die Herkunft beziehungsweise der Geburtsort.
’Gohyang’ ist wie bei jedem Menschen einmalig, eine Behausung jedoch, in der man sich für eine bestimmte Zeit einrichtet, kann man verschiedene im Leben haben. Die Frage, was das zu Hause sein ausmacht, hat mich in den letzten 3 Jahren, in denen ich mich zwischen Amsterdam, Düsseldorf und Seoul bewege stets begleitet. Vor kurzem bin ich in Seoul zweimal auf Arbeiten des Künstlers Do-Ho Suh gestoßen, der in Korea aufwuchs, in New York studierte und seit einigen Jahren in London lebt. Suh verwandelt Architekturen, die mit seiner Autobiografie verknüpft sind, in lebensgroße Häuser und Fragmente aus farbigen transparenten Polyesterstoffen. In einem Interview von 2003 spricht Suh über seinen künstlerischen Antrieb und der ersten Erfahrung von kulturellerer Entfernung als Student, die in ihm damals jedoch kein wirkliches Heimweh nach Korea hervorrief, sondern eher das Bedürfnis Orte zu rekonstruieren und gefaltet in einen Koffer immer und überall mitzunehmen.1 Suh versetzt Häuser in einen neuen Kontext von Raum und Zeit. Sie handeln von kultureller Identität und von einem Sein in verschiedenen Welten. Home within Home within Home within Home within Home (2013) zum Beispiel ist ein 12 m x 15 m lebensgroßer Nachbau eines dreistöckigen Hauses, das der Künstler während seines Studiums in New York bewohnte. Im Inneren dieses blauen Stoffhauses hängt wiederum die Replik eines Hanok, ein traditionelles koreanisches Familienhaus, aus seiner Kindheit.2
Das Haus dient dem Individuum als Zufluchtsort, in dem es sich selbst vergewissern kann. In Suh’s Kunst bietet es jedoch keinen eigentlichen Schutz mehr.
Vielmehr erscheint es in der Transparenz des Materials als etwas Flüchtiges und Veränderliches, das die Unterscheidung von innen und außen, öffentlichen und privaten Raum aufhebt. Auch haftet jenen bis ins Detail nachempfundenen Architekturen etwas Unheimliches an, wenn sie nur mit Wänden und Dächern ausgestattet, wie Gespenster schwebend zwischen anwesend und abwesend oszillieren. Zu der ambivalenten Eigenart des Hauses kommt mir dabei Sigmund Freuds psychologische Schrift Das Unheimliche (1919) in den Sinn. In Analyse des gemeindeutschen Wortes ’heimlich’ erläutert Freud, das dieses nicht nur auf das zum Heim Gehörigen hinweise, aber vor allem auf den sich verbergenden Rückzug in das Haus und auf ein verborgenes Geheimnis. So sei das, was einen ‚unheimlich’ heimsuche nicht das Fremde, sondern im Gegenteil die Wiederkehr eines verdrängten Vertrauten.
Das Haus ruft Fragen nach Geschichte, Erinnerung und Identität hervor und ist im Sinne von Heimat besonders eng mit der Vorstellung von Herkunft, Echtheit beziehungsweise Authentizität verknüpft. Während meines ersten Koreabesuches im Jahre 2005 machte ich die Bekanntschaft mit südkoreanischen Jodlern und deren Gesangsvereinen, mit Namen wie Korean Alpinerose Yodel Club oder Korean Edelweiss Yodel Club. Populär wurde Jodeln in Südkorea nach 1953 unter Einfluss stationierter US Soldaten und der Country Western Musik. Tatsächlich besitzt Südkorea mit mehr als 3000 Mitgliedern und dutzenden Vereinen die höchste Dichte außerhalb des deutschsprachigen Raumes. 3 Jodeln basiert ursprünglich auf der Nachahmung von Lauten aus der Natur, wie zum Beispiel des Kuckucks in den Alpen. Rufgesänge lassen sich in verschiedenen Bergregionen der Welt nachweisen, wie in Lappland, Georgien, Marokko, Kongo, China oder unter Indianergruppen in Nord- und Südamerika. Jodeln in Südkorea, einem Land, daß zu 70 Prozent aus Bergen besteht, ist deshalb nicht abwegig. In alpiner Tracht und Lederhose jedoch wirkt es auf den ersten Blick befremdlich, weil es vor allem an Heimattümelei im eigenen Kulturraum erinnert.4 Der Verbindung von Heimat und Authentizität weiterhin auf der Spur buchte ich im selben Jahr eine Reise in das sagenumwobene Kumgang Gebirge; nostalgischer Sehnsuchtort vieler Koreaner an der Ostküste Nord- und zur Grenze Südkoreas, das zu Zeiten der Sonnenscheinpolitik Kim Dae-Jung’s und von Hyundai Asan touristisch erschlossen wurde. Wirklicher Kontakt fand jedoch bei einem komplett kontrollierten Massentourismus zwischen Südkoreaner in Großrestaurants, Thermalquelle und Zirkus auf der einen Seite und den nordkoreanischen Arbeitern innerhalb der Ferienanlage, entlang der Wanderwege und den Menschen in den umgebenen Dörfern auf der anderen Seite des Zauns nicht statt. In dem Begehren koreanische Identität in mythischer Natur irgendwie erleben zu wollen, glich die Tour einer bizarren Inszenierung des Authentischen. Kumgang-San brachte Devisen für den Norden, war als Investition für eine langfristige Entwicklung angelegt und galt als Hoffnungsmodell für die inner-koreanische Annäherung. Seit 1998 war das Gebirge für Südkoreaner 10 Jahre lang geöffnet, es kamen über eine Millionen, bis zu einem tragischen noch immer ungeklärten Zwischenfall, in dem eine südkoreanische Touristin von einem nordkoreanischen Soldaten erschossen wurde.
Von Authentizität oder vielmehr von der Sehnsucht nach dieser in einer anderen Heimat erzählt meine mehrteilige Arbeit mit dem Titel German Indian (2005 -2010). In Deutschland gibt es mehr als 200 Klubs in denen so genannte Hobbyisten das Leben der amerikanischen Ureinwohner nachahmen. Als Gelegenheitsnomaden tauschen sie ihr Haus gegen ein selbst gemachtes Tipi ein, studieren indianische Gebräuche und stellen Waffen und Kleidung her. Ausgangspunkt von German Indian war zunächst ein Videoporträt über einen Hobbyisten aus Riesa bei Dresden, welches über einen kritischen Diskurs von kultureller Aneignung und Kopie hinaus auch von der Suche nach Freiheit und Selbstverwirklichung innerhalb von zwei politischen Systemen (ehemalige DDR und heutige BRD) handelt. 5 Weiterhin besteht German Indian aus nachgezeichneten Zeichnungen und Re-Fotografien aus dem Archiv Fischer, einem 16-mm-Film und verschiedenen originalen Hobbyisten Artefakten, die, mit dem Begriff der authentischen Inauthentizität spielend, wie in einer ethnografischen Museumssammlung präsentiert werden. Die Ursachen und Motivationen für das weitverbreitete Indianer Hobby seien, zufolge von Autoren wie Yolanda Broyles-Gonzalez 6 insbesondere eine Art diffuser Nachkriegsschuld, die Folgen der Teilung Deutschlands und im Zuge der Wiedervereinigung die entstandenen sozialen und ökonomischen Probleme. Dies hätte zu einer Idealisierung des archaischen und vormodernen Lebens geführt. 7 Murray Small Legs, ein in Deutschland lebender Blackfoot Indianer, spricht gar von „kultivierter“ kultureller Schizophrenie; einige Hobbyisten hätten ein „Indian feeling“, sie glaubten von außen Deutsch aber im Innern ein Indianer und mit ihm auf geheimnisvolle Weise spirituell verbunden zu sein.
Anders als Karl May, der Deutschland mit Hilfe seines literarischen Alter Egos Old Shatterhand in Blutsbrüderschaft mit Winnetou zu entfliehen suchte, handelt Edgar Reitz’ neuer Film Die andere Heimat von der Sehnsucht nach Brasilien. Jedoch geht es nicht wie bei May oder den Hobbyisten um eine Obsession mit einer nie gelebten Vergangenheit, sondern um einen wirklichen Aufbruch in eine andere Welt, fern von Hunger und Armut im Hunsrück des 19. Jahrhunderts. Dass der Film vor allem daran erinnert, dass Deutsche auch mal Flüchtlinge waren, macht ihn gerade im Zuge der sich über die Jahre hinweg wiederholenden fremdenfeindlichern Reflexe, die Angst vor massenhafter Einwanderung und Überfremdung, gewohnt aktuell. Um den Nebenschauplatz Brasilien beziehungsweise den Zusammenhang von Medientechnologie und der ethischen Frage nach dem Umgang mit dem Anderen aus fremden Kulturen, handelt das Buch Von der Freiheit des Migranten - Einsprüche gegen den Nationalismus (1994) von Vilém Flusser. Flusser wurde in Prag geboren, flüchtete vor den Nazis zuvor nach London, und wanderte 1940 nach Brasilien aus, und Kommunikations- und Wissenschaftsphilosophie zu lehren. Heimat ist für Flusser kein ewiger Wert, stattdessen eine Technologie, mit der man auf mysteriösen und unbewussten Weisen verflochten sei. Die Trennung der heimatlichen Fäden durch Migration und Exil empfand Flusser erst als schmerzhaft aber dann als Befreiung. Brasilien, ein „existenzialistisches Niemandsland“, in dem ein utopischer Begriff von Heimat möglich war, blieb aber nur eine Station im Leben Flussers, der das Land, nachdem es in Populismus und Militärdiktatur zurückfiel, 1972 wieder verlies.
Heimat sei immer eine „Sakralisation des Banalen“ und „eine Geheimnistuerei um eine Wohnung.“ 8 Die Informationsrevolution habe die Heimat bereits eingeholt und das „heile“ Haus durch „materielle und immaterielle Kabel” “wie einen Emmentaler durchlöchert“. Im Gegensatz zum Patrioten, der mit seiner „befallenen Ästhetik“ Heimat und Haus „symptomatisch“ miteinander verwechselt, könne der Migrant als eine Art Laboratorium des „Bodenlosen“ fungieren. 9 Denn Heimat definiere sich nicht über die Herkunft, sondern aus der Freiheit seine Nachbarn selbst zu wählen und Verantwortung für die sozialen Bindungen tragen. Heimatlos in den vielen Heimaten und Sprachen, die in ihm wohnen, fordert Flusser ein „schöpferisches Haus als Knoten des zwischenmenschlichen Netzes“, ohne Mauern, die sich nach außen abschotten und nach innen hin heimlich zurückziehen, um ein Heimatmysterium oder „Geheimnis vor dem Unheimlichen zu schützen“. Inwiefern es unter politischen, sozialen und persönlichen Umständen immer gelingt, sich in oder zwischen den Kulturen einzurichten, ist eine andere Frage. Es geht um einen kreativen Umgang mit Heimatlosigkeit und der damit verbundenen Angst vor Verlust und Flüchtigkeit, von der sich der Mensch, wie Do-Ho Suh mit seinen transparenten und in der Tat auch „bodenlosen“ Häusern, befreie.


1 PBS „Seoul Home/L.A. Home“- Korea & Deplacement, https://www.pbs.org/art21/artists/suh/clip1.html
2 Hanjin Shipping The Box Project: Do-Ho Suh, „Home within Home within Home within Home within Home“,
  13.11.2013 – 11.5.2014 National Museum of Modern and Contemporary Art, Korea
3 Bart Plantenga, „Yodel in Hi-Fi: From Kitsch Folk to Modern Electronica“, University of Wisconsin Press 2013
4 Für mehr Information siehe auch: http://www.saschapohle.net/7000%20Rinder/index.html
5 Für mehr Information siehe: http://www.saschapohle.net/German%20Indian/germanindian.html
6 Yolanda Broyles-Gonzalez “Cheyennes in the Black Forest: A social drama” in The Americanization of the Global Village: Essays in Comparative Popular Culture, ed. Roger B. Rollin (Bowling Green, Ohio: Bowling Green University Popular Press, 1989), p. 71.
7 Adam Gilders, "Ich bin eine Indianer: Germany’s obsession with a past it never had," The Walrus,
  Oktober 2003, http://walrusmagazine.com/articles/2003.10-feature-German-Native-Americans/1/
8 Vilem Flusser, „Heimat und Heimatlosigkeit“, herausgegeben von Klaus Sander
Audio-CD, 49 Minuten, vergriffen,
link: http://www.mp3rhino.caom/04-heimat-und-heimatlosigkeit-3-3-mp3-download.html
9 Vilem Flusser, „Bodenlos, eine philosophische Autobiografie“, Fischer 1999








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